Die Vergessenen
Wenn Peter Gruber* vor seine Klasse tritt, strahlt er Gelassenheit und Selbstsicherheit aus. Das braucht der Mittelschullehrer:innen auch um alle seine 26 Schüler:innen zur Ruhe zu bringen. In der neunten Klasse sind alle noch ein wenig nervöser. Am Ende des Schuljahres sollen die jungen Leute schließlich einen Abschluss erwerben, der es ihnen ermöglicht ins Berufsleben zu starten. Gruber lächelt. Er ist dieses Ziel gewohnt, es belastet ihn nicht. Der 31-Jährige macht seine Arbeit mit Freude und er kommt bei den Schüler:innen an. Was ihn ärgert, ist häufiger die Betrachtung von außen. Wenn ihn im Fitnessstudio jemand mit den angeblich so langen Ferienzeiten aufzieht oder als Hauptschullehrer anspricht. Vor bald zehn Jahren wurde die Hauptschule in Bayern reformiert und in Mittelschule umbenannt. „Wenn es so eine Namensänderung mal am Gymnasium gäbe, wüsste das innerhalb eines Jahres jeder“ sagt Gruber sarkastisch. Die Mittelschule aber kommt nicht häufig vor in der öffentlichen Wahrnehmung und wenn, dann eher in Verbindung mit Begriffen wie „Brennpunkt“, „Abgehängten“ oder mit Gewaltschilderungen. Dabei geht vor allem eines verloren: Der Blick dafür, was Mittelschüler:innen alles können. Sie leisten täglich viele Dinge, die sich der Bewertung eines strikt auf Lernerfolge ausgerichteten Schulsystems entziehen. Sie erbringen viele Leistungen wie selbstverständlich zuhause in der Familie, sie betreuen jüngere Geschwister, unterstützen die Eltern und organisieren nebenher ihren Alltag zwischen Schule, Familie, Freunden, Berufsorientierung und Selbstfindung in der Pubertät. Dabei stehen Mittelschüler:innen statistisch gesehen oft vor größeren Herausforderungen. Florians* Eltern zum Beispiel sind vor knapp 20 Jahren aus Südasien nach Deutschland gekommen. Caros* Familie stammt aus dem Kosovo. Wie die meisten ihrer Klassenkameraden sind sie nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen. Wer aber im Elternhaushalt nicht täglich Deutsch spricht und hört, muss sich das Schriftdeutsch anders aneignen als Kinder von Muttersprachlern. Wer wiederum selbst in der Schule nicht Mathe, Deutsch und Englisch erlernt und vielleicht nicht das Geld für Nachhilfe hat tut sich schwer, sein Kind bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Ebenso wer selbst viel arbeitet, um die Familie zu ernähren und deshalb selten daheim ist. Für die Institution Mittelschule und ihre Lehrer:innen ist das alles eine große Herausforderung – der sie sich aber größtenteils mit großem Engagement, Können und Schaffensfreude widmen. Allerdings häufig unbemerkt von der Gesellschaft. Diese fehlende Aufmerksamkeit, das einseitig negative Image gibt Mittelschüler:innen wie Mittelschullehrer:innen ein Gefühl der Vernachlässigung. Sie fühlen sich vergessen von der Gesellschaft, als Menschen in dem was sie sind und können. Durch dieses Verhalten werden Fähigkeiten ignoriert, Ressourcen verschüttet. Das ist ein grundsätzlicher Fehler, der einer großen Gruppe Menschen Unrecht tut und den sich eine Gesellschaft nicht leisten darf. Das ist zumindest die Überzeugung von TIM der Kirsten Schrick Stiftung. Die Stiftung will den Blick auf das lenken, was in den Mittelschülern schlummert, was sie jeden Tag leisten und noch zu leisten im Stande sind. Diese oftmals verborgenen Ressourcen gilt es freizulegen. Das Buch „Die Vergessenen“ will deshalb den Fokus darauf legen, was Mittelschulen und Mittelschullehrer:innen in Bayern täglich leisten und was Schüler:innen und Schüler:innen dieser Schulform alles zuzutrauen ist. Welches Potenzial an Ressourcen in jedem einzelnen Schüler:innen steckt, lässt sich auch soziologisch untermauern. Um diese „Schätze“ zu entdecken und zu heben, verdienen die Schulen und Lehrer:innen mehr Aufmerksamkeit und die Jugendlichen mehr Unterstützung. Denn jeder Jugendliche, gleich welchen Schulabschluss er oder sie hat, so die Überzeugung der Stiftung soll sich wertvoll fühlen, soll selbstbestimmt leben können und auf diese Weise die Gesellschaft kraftvoll, kompetent und motiviert mitgestalten. Mit ihrer Arbeit hat die TIM Stiftung bereits erste Beweise dafür erbracht welchen Effekt eine positive Zuwendung auf Mittelschüler:innen haben kann. TIM geht es dabei nicht darum von außen Hilfen überzustülpen. Vielmehr versucht die Stiftung von den Schüler:innen und Lehrer:innen selbst zu lernen, denn sie sind Expert:innen ihres Alltags. In diesem Buch kommen „Die Vergessenen“ selbst zu Wort.
Irmengard Gnau
*Die gekennzeichneten Eigennamen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.