Die Expert:innen ihres Alltags sind die Jugendlichen selbst. Im Jahr 2012 führen wir daher die Studie „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“ durch. Wir begleiten Jugendliche in ihrem Alltag und erkunden ihr Umfeld. Die Ergebnisse, die wir auf dem MünchnerStiftungsFrühling 2013 vorstellen, dienen als Grundlage für TIMs Angebot.
Die Methode der „Begleitung“
Die Methode der „Begleitung“
Margit Weihrich
Für die empirische Untersuchung der Lebensführungskompetenzen von Jugendlichen geht die TIM-Stiftung einen neuen Weg. Sie bedient sich der Methode der „Begleitung“, die Margit Weihrich und Anna Hoffmann im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Dienstleistungsarbeit (PiA – Professionalisierung interaktiver Arbeit) entwickelt haben. In diesem Forschungsprojekt ging es unter anderem darum, was Kunden alles tun müssen, damit eine Dienstleistung realisiert werden kann; hierfür wurden Kundinnen und Kunden (Reisende am Bahnhof, Gäste im Hotel und Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen) in ihrem „Dienstleistungsalltag“ begleitet (siehe Hoffmann/Weihrich 2011 und Dunkel/Weihrich 2012).
Wir suchten nach Antworten auf die folgenden Fragen: Wie stellt sich eine bestimmte Situation aus der Perspektive des Beforschten denn überhaupt dar? Was ist alles zu tun? Warum handelt die untersuchte Person in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise? Was muss man können und wissen, um auf eine bestimmte Weise handeln zu können? Wie hängen einzelne Handlungen miteinander zusammen? Wie kriegt man all das, was tagaus, tagein zu tun ist, „auf die Reihe“?
Dabei sind wir „interaktiv“ vorgegangen und haben die Menschen, die wir untersuchen wollten, über einen bestimmten Zeitraum hinweg bei ihrem Tun begleitet. „Begleitung“ ist dabei ganz wörtlich zu nehmen: Die Probandin nimmt die Forscherin mit in ihren Dienstleistungsalltag. Auf dem gemeinsamen Weg beobachten Forscherin und Probandin, was die Probandin tut und sprechen darüber. Gleichzeitig nimmt die Forscherin aber auch die Probandin mit in ihren Forschungsalltag: Sie zeigt der untersuchten Person, worauf sich ihr Forschungsinteresse richtet. So beschäftigen sich Forscherin und Beforschte gemeinsam mit einer Forschungsfrage und übernehmen dabei jeweils ein Stück weit die Perspektive der jeweils anderen Person.
Die Zugangsweise steht in der Tradition einer subjektorientierten Soziologie: Die Forscherin kann den Standpunkt der Beforschten einnehmen und den Erfahrungen, welche die Beforschte macht, am eigenen Leib nachspüren. Gleichzeitig beobachtet die Beforschte sich selbst, indem sie den Blick der Forscherin übernimmt; sie teilt mit, was ihr auffällt. So kann die Forscherin verstehen, wie sich die Handlungssituation den Untersuchungspersonen darstellt; sie kann deren Handlungen und körperliche Praktiken beobachten; sie kann die jeweils subjektiven Perspektiven auf die Handlungssituation nachzuvollziehen und deren wechselseitige Verschränkung erfassen. Will man in die Lebenswelt einer anderen Person eintauchen, ist es notwendig, sich auf Ad-hoc-Situationen einzulassen. Was passiert, ist deshalb nicht vorab planbar, sondern hängt von den Gegebenheiten im Feld ab – von „den Methodenzwängen des Feldes, also dessen, was dieser konkrete Gegenstand verlangt und aufdrängt, wenn man ihn denn lässt“ (Hirschauer 2008: 184).
Unsere Vorgehensweise ist ethnografischer Natur. Wie dort gilt deshalb auch hier, dass die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz zu meistern ist – eine Gratwanderung, die darin besteht, dass die Forscherin die Perspektive der Untersuchungsperson übernimmt, aber gleichzeitig als Zeugin der Situation fungiert. Hierfür ist es notwendig, dass die Feldforscherin ihre Rolle permanent reflektiert (vgl. hierzu Przyborski/Wohlrab-Sahr: 60).
Anders als in der Ethnografie fällt diese Gratwanderung vergleichsweise leicht, weil sie durch die folgenden vier methodischen Besonderheiten interaktiver Forschung unterstützt wird:
Erstens: Es gibt eine genau definierte Forschungsfrage, hinter der ein theoretisches Modell steht. Im Forschungsprojekt, in dem die Methode entwickelt worden ist, ging es um die gemeinsame Bewältigung der in Dienstleistungsbeziehungen systematisch anfallenden Abstimmungsprobleme. In den Forschungen der TIM-Stiftung geht es um die Frage nach den Lebensführungskompetenzen von Jugendlichen. Auch dahinter steht mit der „alltäglichen Lebensführung“ ein klares theoretisches Konzept. Und hier wie dort beziehen wir auch die Rahmenbedingungen ein, innerhalb derer die untersuchten Personen agieren. Für unsere Begleitungen begeben wir uns an die Orte und in die Lebenswelt der Menschen hinein, können uns dabei aber an unserer Forschungsfrage „festhalten″.
Zweitens: Wir machen die Probandinnen und Probanden mit unserer Forschungsfrage vertraut. Das ist vergleichsweise unproblematisch, weil sich die Forschungsfrage auf die jeweilige Situation bezieht, in der sich die Untersuchungsperson befindet: Wenn die Forscherin einen Jugendlichen nach seinem Fußballtraining abholt, lässt sich gut erklären, was uns interessiert: was der Jugendliche dort gerade getan hat, was er als Nächstes vorhat, was es sonst noch alles zu tun gibt, wie man alles unter einen Hut kriegt und was man dafür können muss. Die geplante Begleitung zieht notwendigerweise eine Aushandlung zwischen Forscherin und Untersuchungsperson nach sich: Wie soll der Erhebungsprozess aussehen? Darf das Interview aufgezeichnet werden? Wo gehen wir hin? Bereits das setzt bestimmte Kompetenzen voraus – gleichzeitig haben Forscherin und Proband Gelegenheit, sich wechselseitig einzuschätzen. So lässt sich Vertrauen aufbauen – für unsere Methode eine unerlässliche Voraussetzung, den nächsten Schritt zu tun und im Forschungsprozess zu kooperieren.
Drittens: Die Erhebung ist ein interaktiver Prozess: Nicht nur die Forscherin, sondern auch der Proband ist aktiv am Erhebungsprozess beteiligt: Er forscht mit. Er lässt die Forscherin an seinem Alltag teilhaben und beobachtet dabei auch sich selbst. In der ethnografischen Forschung wird immer wieder thematisiert, wie leicht man sich als Feldforscher in Loyalitäts- oder Freundschaftsbeziehungen zur untersuchten Gruppe verwickelt. Dieses Problem haben wir hier nicht: Hier ist es der Proband, der sich unsere Forschungsfragen zu eigen macht und sein eigenes Handeln und Denken in deren Licht reflektiert. Es gibt also stets eine bestimmte Distanz zwischen Forscherin und Proband: Man tut sich zusammen, um etwas herauszubekommen.
Viertens: Trotz der klaren Fragestellung und theoretischen Ausrichtung ist die Erhebungsmethode hochgradig offen. Daran knüpfen sich besondere Anforderungen an die Forscherin: Sie muss sich dem Erhebungsprozess „anschmiegen″ und offen sein für situative Begebenheiten, ohne ihre Forschungsfrage aus dem Auge zu verlieren. Die Probandinnen und Probanden müssen dafür gewonnen werden, die Forscherin in die Situation zu integrieren; sie müssen während der Begleitung nicht nur bei der Stange gehalten, sondern auch als Mitforscherinnen und Mitforscher qualifiziert werden; und schließlich muss man sich auf eine adäquate Weise wieder aus der Situation zurückziehen können. Hierfür muss die Forscherin flexibel sein, in unterschiedliche Settings eintauchen können – und ihre subjektiven Eigenschaften zum Einsatz bringen. Gerade Letzteres macht auch verletzlich: Interaktive Forschung findet immer unter Unsicherheit statt (siehe hierzu auch Lüders 2000, 394f.): Man kann die Untersuchungsperson nicht (wie in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung ansonsten üblich) an einem geschützten Ort mit einem Leitfaden in Schach halten. So braucht man eine gehörige Portion sozialen Mutes, wenn man sich auf eine nach so vielen Seiten offene Erhebungsmethode einlässt.
Das gilt nicht nur für die Forscherin, sondern auch für die Untersuchungspersonen, die sich auf ein solches Experiment einlassen – in unserem Fall für die Jungen und Mädchen, die sich mit uns auf den Weg machen. Auch sie müssen offen sein, auf ihr Gegenüber eingehen, mit Unsicherheit umgehen, Perspektiven übernehmen, sich selbst reflektieren und mutig sein. All dies sind Kompetenzen, die man auch für eine gelingende Lebensführung benötigt. Beide Seiten, Forscher und Probanden, lernen bei der „Begleitung“ nicht nur etwas über diese Kompetenzen, sondern üben sie auch ein. Und es macht auch Spaß, auf diese Weise unterwegs zu sein.
Literatur:
Dunkel, Wolfgang; Weihrich, Margit (Hrsg.) (2012): Interaktive Arbeit. Theorie, Praxis und Gestaltung von Dienstleistungsbeziehungen, Wiesbaden: Springer VS.
Hirschauer, Stefan (2008): Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In: Kalthoff, Herbert; Hirschauer, Stefan; Lindemann, Gesa (Hrsg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 165–187.
Hoffmann, Anna; Weihrich, Margit (2011): „Wissen Sie, wo hier die Schließfächer sind?″ „Das trifft sich gut! Wir machen ein Forschungsprojekt und würden Sie gern bei der Suche begleiten“. Die Begleitung als interaktive Methode in der Arbeitssoziologie. In: AIS. Arbeits- und Industriesoziologische Studien, 4. Jg., Heft 1, S. 5–18 (http://www.ais-studien.de/uploads/tx_nfextarbsoznetzeitung/Hoffmann_Weihrich_AISStudien_19Jan2011_korrEndf.pdf)
Lüders, Christian (2000): Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt, S. 384–401.
Przyborski, Aglaia/Wohlrab-Sahr, Monika (2008): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag.
Voß, G. Günter; Weihrich, Margit (Hrsg.) (2001): Tagaus – tagein. Neue Beiträge zur Soziologie Alltäglicher Lebensführung. München und Mering: Rainer Hampp.
Jurczyk, Karin; Rerrich, Maria S. (Hrsg.) (1993): Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung. Freiburg: Lambertus.
Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ (Hrsg.) (1995): Arrangements zwischen Traditionalität und Modernisierung. Opladen: Leske+Budrich.
Ergebnisse der Studie „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“
Ergebnisse der Studie „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“
Entdeckungen im Alltag
Was haben wir über Alltagskompetenzen und Lebensführung von Jugendlichen erfahren? Die Teilnehmer sind Jungs und Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. Fast alle der interviewten Jugendlichen besuchen die Mittelschule, zwei die Realschule. Nur einer ist ohne Migrationshintergrund. Unterwegs in ihrem Alltag begegnen sie uns mit großer Offenheit, und eines haben wir sofort gemerkt: die Jugendlichen können viel. Müssen sie auch, denn ihre Lebensverhältnisse sind schwierig.
Verantwortung zeigen
Wenn Nico uns all die Geschäfte und Supermärkte zeigt, in denen er für seine Familie einkauft, und dabei über die jeweiligen Lebensmittelpreise berichtet, sieht man, welche Verantwortung er übernommen hat und wie souverän er sie meistert. Die Jugendlichen übernehmen früh viel Verantwortung in ihrer Familie: Sie sorgen dafür, dass ihre jüngeren Geschwister pünktlich in die Schule kommen und all ihre Sachen dabeihaben, und sie helfen ihnen bei den Hausaufgaben. Sie haben im Blick, wo, mit wem und wie lange ihre Geschwister unterwegs sind. Auch den Eltern gehen sie zur Hand: im Haushalt, beim Kochen und Einkaufen, oder bei Behördengängen, wenn die Eltern mit der Sprache Schwierigkeiten haben.
Soziales Networking
Aysel zeigt uns, wo sie sich mit ihren Freundinnen trifft und auf welche Weise sie sich mit ihnen verabredet. Wie alle anderen befragten Jugendlichen ist sie sozial extrem aktiv. Dazu gehören Organisationstalent und permanentes Networking, damit sie die Termine mit Familie, Verwandten, Schulfreunden, anderen Freunden, Sportkameraden und vieles mehr unter einen Hut bekommt. Über Facebook und WhatsApp sind die Jugendlichen miteinander ständig in Kontakt, Orte werden als Treffpunkte markiert, Verabredungen ausgemacht. Deshalb ist ein Smartphone für alle sehr wichtig, denn Telefonieren und SMS kosten Geld, aber festes Taschengeld bekommt keiner der Jugendlichen, die wir interviewt haben. Damit sie sich zum Beispiel ein Smartphone leisten können, jobben viele am Wochenende. Mit dem selbstverdienten Geld entlasten sie auch bewusst ihre Eltern.
Vielsprachigkeit
Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund sprechen mindestens drei Sprachen: die Sprache ihrer Eltern, Deutsch und Schulenglisch. Die Jugendlichen genießen ihre Vielsprachigkeit, gerade auch weil sie oft in die Heimat ihrer Eltern fahren. Aber manchmal wird das Hin und Her zwischen mehreren Sprachen auch zum Spagat: Wenn Nico die französische Sprache, die er in seiner Kindheit in Nordafrika gesprochen hat, nun gar nicht mehr richtig kann, ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass man förderpolitisch an den vorhandenen Kompetenzen ansetzen muss.
Zwischen den Kulturen?
Die Familie ist ein Ort der Zugehörigkeit und des Miteinanders. Verwandte haben einen hohen Stellenwert im Leben der Jugendlichen. Jeder ist Vorbild – in der Erziehung, in der Schule, im Sport, im Beruf, im Umgang mit anderen, in der Frage, was sich gehört und was nicht, in der Religion und bei der Zukunftsplanung. Die Jugendlichen fühlen sich damit wohl und gut aufgehoben. Schwierig wird es allerdings bei den Rollenbildern von Frau und Mann. Von den Jungs mit Migrationshintergrund wird früh erwartet, dass sie Geld verdienen, auf den Umgang ihrer Schwestern mit anderen achten, wichtige Familienentscheidungen mittragen. Die Mädchen werden stark in den Haushalt eingebunden, berufliche Qualifikationen werden von ihnen weniger erwartet. Für die Jugendlichen selbst ist das schwierig: Die Mädchen strengen sich in der Schule an, um gute Berufs- und Ausbildungschancen zu haben. Die Jungs spüren den Gegenwind in ihrem Freundeskreis, wenn sie an den alten Rollenbildern festhalten wollen.
Stimmen der Jugendlichen zu „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“
Stimmen der Jugendlichen zu „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“
Offenheit …
„Wenn man in einem Laden was kaufen will oder jemandem begegnet, dann braucht man, ich weiß nicht, vielleicht Interesse. Der gegenüber kommt dann auch offen rüber. Das ist einfach besser so. Weil wenn ich was will und da so schüchtern da steh’ – das macht keinen Sinn.“
Tagaus, tagein …
„Wenn ich nach Hause komm’, hab’ ich schon meist Zeitdruck. Ich bin dann auch so hungrig, ess’ noch was, dann geh’ ich meine Hausaufgaben machen, schau’ auf die Uhr, weil ich nachher ins Training muss. Und da ist es genauso wichtig, dass man nicht zu spät kommt, genau wie in der Schule. Dann komm’ ich so um zehn wieder nach Hause, komplett kaputt, und dann merkst du, du hast deine Hausaufgaben nicht alle gemacht, und dann hängt es schon an der Zeit, dass es endlich gemacht wird und dass man dann automatisch müde ist. Und das ist eigentlich schon fast Alltag – also bei mir ist es so: Ich geh’ in die Schule, nach Hause, ins Training, versuch’, meine Hausaufgaben zu machen, bisschen zu lernen.“
„Unter der Woche geh’ ich in die Schule. Wir haben auch nachmittags Unterricht bis halb fünf. Und dann Samstag hab’ ich Arbeit. Also, ich mach’ so Aushilfe. Und da hab’ ich den ganzen Samstag bis um acht, bis um zwanzig Uhr – dann hab’ ich auch keine Zeit, halt so raus zu gehen. Und dann Sonntag ist eher so der Ruhetag zum Ausruhen.“
Soziale Networker …
„Am Wochenende, da treffen wir uns erst mal an einem Fußballplatz, wo wir eigentlich immer so sind … … Und dann sind wir halt dort, und da kommen jetzt Leute, die du kennst, und Leute, die du nicht kennst. Dann machst du die Teams und spielst mit einem, den du nicht kennst, der kommt immer wieder und wieder. Und morgen hast du ihn schon auf Facebook, und dann siehst du die Leute wieder, und dann kennst du die einfach. Es zieht immer weitere Kreise. Und durch Fußball kenn’ ich eigentlich schon fast jeden.“
Vorbilder …
„Also ich finde ja, jede Familie ist eine Vorbildfunktion für jemanden. Wenn man die Mutter sieht, dass sie alles hinbekommen hat, wie sie dich sozusagen erzogen hat, dann denkt man sich doch auch, so will ich mein Kind auch erziehen.“
Verantwortung …
„Wenn ich nach Hause komme und niemand zu Hause ist, was meisten so ist, kauf’ ich alles ein und koche. So wurde ich halt erzogen von meinen Eltern. Und, ja, wenn du nach Hause kommst und jemand ist schon zu Hause, dann ist auch alles schon vorbereitet.“
Grenzen testen …
„Also, es liegt einfach von Anfang an auch am Freundeskreis, also wenn’s um Alkohol oder Rauchen geht. Wenn keiner von deinen Freunden raucht – es kommt halt drauf an, mit wem du jeden Tag draußen bist -, dann kommst du gar nicht dazu. Weil bei mir ist es halt so, dass fast alle meine Freunde Fußball spielen. Das ist auch ein Grund, warum die so was weglassen.“
Das Geld ist gezählt …
„Es ist ein gewisser Stolz, wenn man sich das selber finanzieren kann. Und wenn man für die Schullandheimreise selber zahlt, dann denkt man sich, ich hab’ was geleistet. Das hast du selber finanziert, und das ist dann auch gut.“
Vielsprachigkeit …
„Also ich sprech’ Deutsch und Afghanisch, also mit Paschtu und Dari. Natürlich Englisch. Und, ja, wenn man mit Fußball in Togo ist, dann lernt man ein bisschen Französisch, wenn man in Polen ist, Polnisch, in Kroatien ein bisschen Kroatisch.“
Das Come-Together in der TIM-Stiftung …
„Mir ist klar geworden, dass ich nicht die Einzige bin. Jetzt denk’ ich mir, bei denen ist es auch so. Bei mir ist gar nichts schief.“
„Ich will nur kurz zu dem Punkt was sagen: Mich wundert’s so, wieso – ich sag’ jetzt mal in Anführungszeichen „Erwachsene“ –, also wieso erwarten die Erwachsenen von uns so wenig? Nur weil wir etwas jünger sind. Die Erwartungen sind zu niedrig, find’ ich.“
Mit Antonio unterwegs – eine Begleitung
Mit Antonio unterwegs – eine Begleitung
Margit Weihrich
Antonio ist 16. Er ist in Brasilien aufgewachsen und lebt seit einigen Jahren in Deutschland. Wir haben uns auf dem Sportplatz verabredet und machen uns von dort auf den Weg durch das Viertel, in dem er wohnt. Antonio erzählt ein bisschen über Brasilien, wo seine Großmutter lebt, nach der er sich sehnt. „Der Opa von der Oma ist gestorben, jetzt ist sie ganz alleine“. Portugiesisch könne er schon nicht mehr richtig, und umgekehrt sei sein Deutsch noch nicht perfekt. Aber er sei ein guter Fußballer. „Die sagen hier, Du bist gut!“. Aber sie würden auch sagen, er träume zu viel und müsse mehr trainieren.
Auf dem Weg erzählt Antonio, wie ein normaler Tag bei ihm aussieht. Er steht um 6 Uhr auf und geht unter die Dusche. Frühstücken sei nichts für ihn. „Ich kann erst in der Pause was essen, in der Früh habe ich keinen Appetit“. Wir stehen jetzt an einer Kreuzung, und Antonio deutet auf den Discounter an der Ecke. „Da ist Aldi, da kaufe ich Wasser.“ Wie er das transportiere? „Mit dem Rad, das ist schwer“. Andere Getränke kaufe er bei Lidl, und Brot dort beim Bäcker. Er zeigt auf den Laden.
Seine Mutter ist krank, erzählt er, und er mache jetzt alles, was zuhause so anfällt: einkaufen, waschen, kochen. Was kochst Du, frage ich. „Spaghetti, Reis, alles. Meine Mutter isst aber nicht alles, was ich koche, vor allem, wenn ich was Kreolisches mache. Da ist sie ja der Profi.“ Ich lobe ihn und sage, das sei ja toll, dass er so viel im Haushalt mache. So toll sei das nun auch wieder nicht, sagt er. „Manchmal bin ich auch frech“.
Kochen macht Spaß, sagt er, „und das kann ich auch gut“. Er könne sich vorstellen, mal Koch zu werden, aber da müsse man so früh aufstehen. Außenverteidiger zu werden wäre aber noch besser. Wir kommen an einem Stadtteilplatz vorbei, einige Jugendliche kicken dort. „Die beiden hier kenn ich“, sagt er. „Hier spielen wir oft Fußball, mit allen möglichen Leuten“.
Er deutet in Richtung Innenstadt, dorthin fahre er manchmal, zu Scheck und Schuster wegen Sportsachen. Und zum Oktoberfest, sagt er und lacht. „Ich wohne da hinten“, sagt er. Als wir in seine Straße abbiegen, kommt uns auf der anderen Straßenseite ein älterer Junge entgegen, man ruft sich hallo zu, ich sage, ah, Du kennst ja jede Menge Leute. „Der ist aber nicht immer nett zu mir“, sagt er. Ich frage, was der denn mit ihm mache. „Er sagt, Du Opfer und so was“. Warum denn, frage ich. „Wegen der Farbe“, sagt Antonio und deutet auf seine Haut. Was er dann mache in so einer Situation? „Ich beleidige zurück“, sagt er.
Wir sind jetzt in der Nähe seiner Wohnung, und Antonio zeigt mir die Läden rundum. In einem kleinen Obstladen kaufe er Frisches ein. „Schlecker hat jetzt zugemacht“, sage ich, als wir an einem leeren Ladenlokal vorbeikommen. „Ja, das ist schlecht“, sagt Antonio. „Jetzt muss ich in die Stadt fahren, wenn wir Drogerie-Sachen brauchen“. „Da wohne ich“, sagt er und deutet in eine Straße. Ein eigenes Zimmer habe er nicht. Wenn er Zeit habe, mache er Computerspiele. Manchmal sei ihm auch langweilig, zum Beispiel am Wochenende.
Wir kehren um und machen uns auf den Weg zurück zum Sportplatz. An der Straßenbahnhaltestelle bleiben wir wieder stehen, und Antonio erzählt über seinen Schulweg. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Er fährt meistens mit der U‑Bahn, auch wenn das länger dauert – aber da kriegt er in der Regel beim Umsteigen den Anschluss, mit der Straßenbahn sei das schwieriger. „Jetzt gibt’s ja bald Zeugnisse“, sage ich. In Kochen habe er immer gute Noten, sagt Antonio. Neulich habe er in der Schule das kreolische Reisgericht gekocht, von dem seine Mutter sagt, sie könne das besser. Ich frage ihn, ob die anderen Jungs auch so viel für den Haushalt machen. Das wisse er nicht, sagt er. „Wissen die anderen, was Du da alles machst?“ „Nein, da reden wir nicht drüber“.
Was er jetzt noch vorhabe? Er müsse um vier zu Hause sein, sagt Antonio, seine Mutter warte sicher schon auf ihn, „wegen dem Essen“. Am Ende frage ich ihn noch, ob wir ein Thema vergessen haben, das er wichtig finde. „Über die Liebe haben wir nicht geredet“, sagt er, lacht und schaut ein bisschen verlegen zur Seite.
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