Jugendliche zeigen uns ihr Leben

Die Expert:innen ihres All­tags sind die Jugend­li­chen selbst. Im Jahr 2012 füh­ren wir daher die Stu­die „Jugend­li­che zei­gen uns ihr Leben“ durch. Wir beglei­ten Jugend­li­che in ihrem All­tag und erkun­den ihr Umfeld. Die Ergeb­nis­se, die wir auf dem Münch­ner­Stif­tungs­Früh­ling 2013 vor­stel­len, die­nen als Grund­la­ge für TIMs Angebot.

Die Methode der „Begleitung“

Die Methode der „Begleitung“

Margit Weihrich

Für die empi­ri­sche Unter­su­chung der Lebens­füh­rungs­kom­pe­ten­zen von Jugend­li­chen geht die TIM-Stif­tung einen neu­en Weg. Sie bedient sich der Metho­de der „Beglei­tung“, die Mar­git Weih­rich und Anna Hoff­mann im Rah­men eines For­schungs­pro­jekts zur Dienst­leis­tungs­ar­beit (PiA – Pro­fes­sio­na­li­sie­rung inter­ak­ti­ver Arbeit) ent­wi­ckelt haben. In die­sem For­schungs­pro­jekt ging es unter ande­rem dar­um, was Kun­den alles tun müs­sen, damit eine Dienst­leis­tung rea­li­siert wer­den kann; hier­für wur­den Kun­din­nen und Kun­den (Rei­sen­de am Bahn­hof, Gäs­te im Hotel und Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner von Alten­hei­men) in ihrem „Dienst­leis­tungs­all­tag“ beglei­tet (sie­he Hoffmann/Weihrich 2011 und Dunkel/Weihrich 2012).
Wir such­ten nach Ant­wor­ten auf die fol­gen­den Fra­gen: Wie stellt sich eine bestimm­te Situa­ti­on aus der Per­spek­ti­ve des Beforsch­ten denn über­haupt dar? Was ist alles zu tun? War­um han­delt die unter­such­te Per­son in einer bestimm­ten Situa­ti­on auf eine bestimm­te Wei­se? Was muss man kön­nen und wis­sen, um auf eine bestimm­te Wei­se han­deln zu kön­nen? Wie hän­gen ein­zel­ne Hand­lun­gen mit­ein­an­der zusam­men? Wie kriegt man all das, was tag­aus, tag­ein zu tun ist, „auf die Reihe“?
Dabei sind wir „inter­ak­tiv“ vor­ge­gan­gen und haben die Men­schen, die wir unter­su­chen woll­ten, über einen bestimm­ten Zeit­raum hin­weg bei ihrem Tun beglei­tet. „Beglei­tung“ ist dabei ganz wört­lich zu neh­men: Die Pro­ban­din nimmt die For­sche­rin mit in ihren Dienst­leis­tungs­all­tag. Auf dem gemein­sa­men Weg beob­ach­ten For­sche­rin und Pro­ban­din, was die Pro­ban­din tut und spre­chen dar­über. Gleich­zei­tig nimmt die For­sche­rin aber auch die Pro­ban­din mit in ihren For­schungs­all­tag: Sie zeigt der unter­such­ten Per­son, wor­auf sich ihr For­schungs­in­ter­es­se rich­tet. So beschäf­ti­gen sich For­sche­rin und Beforsch­te gemein­sam mit einer For­schungs­fra­ge und über­neh­men dabei jeweils ein Stück weit die Per­spek­ti­ve der jeweils ande­ren Person.
Die Zugangs­wei­se steht in der Tra­di­ti­on einer sub­jekt­ori­en­tier­ten Sozio­lo­gie: Die For­sche­rin kann den Stand­punkt der Beforsch­ten ein­neh­men und den Erfah­run­gen, wel­che die Beforsch­te macht, am eige­nen Leib nach­spü­ren. Gleich­zei­tig beob­ach­tet die Beforsch­te sich selbst, indem sie den Blick der For­sche­rin über­nimmt; sie teilt mit, was ihr auf­fällt. So kann die For­sche­rin ver­ste­hen, wie sich die Hand­lungs­si­tua­ti­on den Unter­su­chungs­per­so­nen dar­stellt; sie kann deren Hand­lun­gen und kör­per­li­che Prak­ti­ken beob­ach­ten; sie kann die jeweils sub­jek­ti­ven Per­spek­ti­ven auf die Hand­lungs­si­tua­ti­on nach­zu­voll­zie­hen und deren wech­sel­sei­ti­ge Ver­schrän­kung erfas­sen. Will man in die Lebens­welt einer ande­ren Per­son ein­tau­chen, ist es not­wen­dig, sich auf Ad-hoc-Situa­tio­nen ein­zu­las­sen. Was pas­siert, ist des­halb nicht vor­ab plan­bar, son­dern hängt von den Gege­ben­hei­ten im Feld ab – von „den Metho­den­zwän­gen des Fel­des, also des­sen, was die­ser kon­kre­te Gegen­stand ver­langt und auf­drängt, wenn man ihn denn lässt“ (Hirschau­er 2008: 184).
Unse­re Vor­ge­hens­wei­se ist eth­no­gra­fi­scher Natur. Wie dort gilt des­halb auch hier, dass die Grat­wan­de­rung zwi­schen Nähe und Distanz zu meis­tern ist – eine Grat­wan­de­rung, die dar­in besteht, dass die For­sche­rin die Per­spek­ti­ve der Unter­su­chungs­per­son über­nimmt, aber gleich­zei­tig als Zeu­gin der Situa­ti­on fun­giert. Hier­für ist es not­wen­dig, dass die Feld­for­sche­rin ihre Rol­le per­ma­nent reflek­tiert (vgl. hier­zu Przy­borski/­Wohl­rab-Sahr: 60).
Anders als in der Eth­no­gra­fie fällt die­se Grat­wan­de­rung ver­gleichs­wei­se leicht, weil sie durch die fol­gen­den vier metho­di­schen Beson­der­hei­ten inter­ak­ti­ver For­schung unter­stützt wird:
Ers­tens: Es gibt eine genau defi­nier­te For­schungs­fra­ge, hin­ter der ein theo­re­ti­sches Modell steht. Im For­schungs­pro­jekt, in dem die Metho­de ent­wi­ckelt wor­den ist, ging es um die gemein­sa­me Bewäl­ti­gung der in Dienst­leis­tungs­be­zie­hun­gen sys­te­ma­tisch anfal­len­den Abstim­mungs­pro­ble­me. In den For­schun­gen der TIM-Stif­tung geht es um die Fra­ge nach den Lebens­füh­rungs­kom­pe­ten­zen von Jugend­li­chen. Auch dahin­ter steht mit der „all­täg­li­chen Lebens­füh­rung“ ein kla­res theo­re­ti­sches Kon­zept. Und hier wie dort bezie­hen wir auch die Rah­men­be­din­gun­gen ein, inner­halb derer die unter­such­ten Per­so­nen agie­ren. Für unse­re Beglei­tun­gen bege­ben wir uns an die Orte und in die Lebens­welt der Men­schen hin­ein, kön­nen uns dabei aber an unse­rer For­schungs­fra­ge „fest­hal­ten″.
Zwei­tens: Wir machen die Pro­ban­din­nen und Pro­ban­den mit unse­rer For­schungs­fra­ge ver­traut. Das ist ver­gleichs­wei­se unpro­ble­ma­tisch, weil sich die For­schungs­fra­ge auf die jewei­li­ge Situa­ti­on bezieht, in der sich die Unter­su­chungs­per­son befin­det: Wenn die For­sche­rin einen Jugend­li­chen nach sei­nem Fuß­ball­trai­ning abholt, lässt sich gut erklä­ren, was uns inter­es­siert: was der Jugend­li­che dort gera­de getan hat, was er als Nächs­tes vor­hat, was es sonst noch alles zu tun gibt, wie man alles unter einen Hut kriegt und was man dafür kön­nen muss. Die geplan­te Beglei­tung zieht not­wen­di­ger­wei­se eine Aus­hand­lung zwi­schen For­sche­rin und Unter­su­chungs­per­son nach sich: Wie soll der Erhe­bungs­pro­zess aus­se­hen? Darf das Inter­view auf­ge­zeich­net wer­den? Wo gehen wir hin? Bereits das setzt bestimm­te Kom­pe­ten­zen vor­aus – gleich­zei­tig haben For­sche­rin und Pro­band Gele­gen­heit, sich wech­sel­sei­tig ein­zu­schät­zen. So lässt sich Ver­trau­en auf­bau­en – für unse­re Metho­de eine uner­läss­li­che Vor­aus­set­zung, den nächs­ten Schritt zu tun und im For­schungs­pro­zess zu kooperieren.
Drit­tens: Die Erhe­bung ist ein inter­ak­ti­ver Pro­zess: Nicht nur die For­sche­rin, son­dern auch der Pro­band ist aktiv am Erhe­bungs­pro­zess betei­ligt: Er forscht mit. Er lässt die For­sche­rin an sei­nem All­tag teil­ha­ben und beob­ach­tet dabei auch sich selbst. In der eth­no­gra­fi­schen For­schung wird immer wie­der the­ma­ti­siert, wie leicht man sich als Feld­for­scher in Loya­li­täts- oder Freund­schafts­be­zie­hun­gen zur unter­such­ten Grup­pe ver­wi­ckelt. Die­ses Pro­blem haben wir hier nicht: Hier ist es der Pro­band, der sich unse­re For­schungs­fra­gen zu eigen macht und sein eige­nes Han­deln und Den­ken in deren Licht reflek­tiert. Es gibt also stets eine bestimm­te Distanz zwi­schen For­sche­rin und Pro­band: Man tut sich zusam­men, um etwas herauszubekommen.
Vier­tens: Trotz der kla­ren Fra­ge­stel­lung und theo­re­ti­schen Aus­rich­tung ist die Erhe­bungs­me­tho­de hoch­gra­dig offen. Dar­an knüp­fen sich beson­de­re Anfor­de­run­gen an die For­sche­rin: Sie muss sich dem Erhe­bungs­pro­zess „anschmie­gen″ und offen sein für situa­ti­ve Bege­ben­hei­ten, ohne ihre For­schungs­fra­ge aus dem Auge zu ver­lie­ren. Die Pro­ban­din­nen und Pro­ban­den müs­sen dafür gewon­nen wer­den, die For­sche­rin in die Situa­ti­on zu inte­grie­ren; sie müs­sen wäh­rend der Beglei­tung nicht nur bei der Stan­ge gehal­ten, son­dern auch als Mit­for­sche­rin­nen und Mit­for­scher qua­li­fi­ziert wer­den; und schließ­lich muss man sich auf eine adäqua­te Wei­se wie­der aus der Situa­ti­on zurück­zie­hen kön­nen. Hier­für muss die For­sche­rin fle­xi­bel sein, in unter­schied­li­che Set­tings ein­tau­chen kön­nen – und ihre sub­jek­ti­ven Eigen­schaf­ten zum Ein­satz brin­gen. Gera­de Letz­te­res macht auch ver­letz­lich: Inter­ak­ti­ve For­schung fin­det immer unter Unsi­cher­heit statt (sie­he hier­zu auch Lüders 2000, 394f.): Man kann die Unter­su­chungs­per­son nicht (wie in der arbeits- und indus­trie­so­zio­lo­gi­schen For­schung ansons­ten üblich) an einem geschütz­ten Ort mit einem Leit­fa­den in Schach hal­ten. So braucht man eine gehö­ri­ge Por­ti­on sozia­len Mutes, wenn man sich auf eine nach so vie­len Sei­ten offe­ne Erhe­bungs­me­tho­de einlässt.
Das gilt nicht nur für die For­sche­rin, son­dern auch für die Unter­su­chungs­per­so­nen, die sich auf ein sol­ches Expe­ri­ment ein­las­sen – in unse­rem Fall für die Jun­gen und Mäd­chen, die sich mit uns auf den Weg machen. Auch sie müs­sen offen sein, auf ihr Gegen­über ein­ge­hen, mit Unsi­cher­heit umge­hen, Per­spek­ti­ven über­neh­men, sich selbst reflek­tie­ren und mutig sein. All dies sind Kom­pe­ten­zen, die man auch für eine gelin­gen­de Lebens­füh­rung benö­tigt. Bei­de Sei­ten, For­scher und Pro­ban­den, ler­nen bei der „Beglei­tung“ nicht nur etwas über die­se Kom­pe­ten­zen, son­dern üben sie auch ein. Und es macht auch Spaß, auf die­se Wei­se unter­wegs zu sein.
Literatur:

Dun­kel, Wolf­gang; Weih­rich, Mar­git (Hrsg.) (2012): Inter­ak­ti­ve Arbeit. Theo­rie, Pra­xis und Gestal­tung von Dienst­leis­tungs­be­zie­hun­gen, Wies­ba­den: Sprin­ger VS.
Hirschau­er, Ste­fan (2008): Die Empi­rie­ge­la­den­heit von Theo­rien und der Erfin­dungs­reich­tum der Pra­xis. In: Kalt­hoff, Her­bert; Hirschau­er, Ste­fan; Lin­de­mann, Gesa (Hrsg.): Theo­re­ti­sche Empi­rie. Zur Rele­vanz qua­li­ta­ti­ver For­schung. Frank­furt a. M.: Suhr­kamp, S. 165–187.
Hoff­mann, Anna; Weih­rich, Mar­git (2011): „Wis­sen Sie, wo hier die Schließ­fä­cher sind?″ „Das trifft sich gut! Wir machen ein For­schungs­pro­jekt und wür­den Sie gern bei der Suche beglei­ten“. Die Beglei­tung als inter­ak­ti­ve Metho­de in der Arbeits­so­zio­lo­gie. In: AIS. Arbeits- und Indus­trie­so­zio­lo­gi­sche Stu­di­en, 4. Jg., Heft 1, S. 5–18 (http://www.ais-studien.de/uploads/tx_nfextarbsoznetzeitung/Hoffmann_Weihrich_AISStudien_19Jan2011_korrEndf.pdf)
Lüders, Chris­ti­an (2000): Beob­ach­ten im Feld und Eth­no­gra­phie. In: Flick, Uwe; von Kar­dorff, Ernst; Stein­ke, Ines (Hrsg.): Qua­li­ta­ti­ve For­schung. Ein Hand­buch. Rein­bek: Rowohlt, S. 384–401.
Przy­bor­ski, Aglai­a/­Wohl­rab-Sahr, Moni­ka (2008): Qua­li­ta­ti­ve Sozi­al­for­schung. Ein Arbeits­buch. Mün­chen: Olden­bourg Verlag.
Voß, G. Gün­ter; Weih­rich, Mar­git (Hrsg.) (2001): Tag­aus – tag­ein. Neue Bei­trä­ge zur Sozio­lo­gie All­täg­li­cher Lebens­füh­rung. Mün­chen und Mering: Rai­ner Hampp.
Jurc­zyk, Karin; Rer­rich, Maria S. (Hrsg.) (1993): Die Arbeit des All­tags. Bei­trä­ge zu einer Sozio­lo­gie der all­täg­li­chen Lebens­füh­rung. Frei­burg: Lambertus.
Pro­jekt­grup­pe „All­täg­li­che Lebens­füh­rung“ (Hrsg.) (1995): Arran­ge­ments zwi­schen Tra­di­tio­na­li­tät und Moder­ni­sie­rung. Opla­den: Leske+Budrich.

Ergebnisse der Studie „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“

Ergebnisse der Studie „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“

Entdeckungen im Alltag

Was haben wir über All­tags­kom­pe­ten­zen und Lebens­füh­rung von Jugend­li­chen erfah­ren? Die Teil­neh­mer sind Jungs und Mäd­chen im Alter zwi­schen 15 und 17 Jah­ren. Fast alle der inter­view­ten Jugend­li­chen besu­chen die Mit­tel­schu­le, zwei die Real­schu­le. Nur einer ist ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Unter­wegs in ihrem All­tag begeg­nen sie uns mit gro­ßer Offen­heit, und eines haben wir sofort gemerkt: die Jugend­li­chen kön­nen viel. Müs­sen sie auch, denn ihre Lebens­ver­hält­nis­se sind schwierig.

Verantwortung zeigen

Wenn Nico uns all die Geschäf­te und Super­märk­te zeigt, in denen er für sei­ne Fami­lie ein­kauft, und dabei über die jewei­li­gen Lebens­mit­tel­prei­se berich­tet, sieht man, wel­che Ver­ant­wor­tung er über­nom­men hat und wie sou­ve­rän er sie meis­tert. Die Jugend­li­chen über­neh­men früh viel Ver­ant­wor­tung in ihrer Fami­lie: Sie sor­gen dafür, dass ihre jün­ge­ren Geschwis­ter pünkt­lich in die Schu­le kom­men und all ihre Sachen dabei­ha­ben, und sie hel­fen ihnen bei den Haus­auf­ga­ben. Sie haben im Blick, wo, mit wem und wie lan­ge ihre Geschwis­ter unter­wegs sind. Auch den Eltern gehen sie zur Hand: im Haus­halt, beim Kochen und Ein­kau­fen, oder bei Behör­den­gän­gen, wenn die Eltern mit der Spra­che Schwie­rig­kei­ten haben.

Soziales Networking

Aysel zeigt uns, wo sie sich mit ihren Freun­din­nen trifft und auf wel­che Wei­se sie sich mit ihnen ver­ab­re­det. Wie alle ande­ren befrag­ten Jugend­li­chen ist sie sozi­al extrem aktiv. Dazu gehö­ren Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lent und per­ma­nen­tes Net­wor­king, damit sie die Ter­mi­ne mit Fami­lie, Ver­wand­ten, Schul­freun­den, ande­ren Freun­den, Sport­ka­me­ra­den und vie­les mehr unter einen Hut bekommt. Über Face­book und Whats­App sind die Jugend­li­chen mit­ein­an­der stän­dig in Kon­takt, Orte wer­den als Treff­punk­te mar­kiert, Ver­ab­re­dun­gen aus­ge­macht. Des­halb ist ein Smart­phone für alle sehr wich­tig, denn Tele­fo­nie­ren und SMS kos­ten Geld, aber fes­tes Taschen­geld bekommt kei­ner der Jugend­li­chen, die wir inter­viewt haben. Damit sie sich zum Bei­spiel ein Smart­phone leis­ten kön­nen, job­ben vie­le am Wochen­en­de. Mit dem selbst­ver­dien­ten Geld ent­las­ten sie auch bewusst ihre Eltern.

Vielsprachigkeit

Die Jugend­li­chen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund spre­chen min­des­tens drei Spra­chen: die Spra­che ihrer Eltern, Deutsch und Schul­eng­lisch. Die Jugend­li­chen genie­ßen ihre Viel­spra­chig­keit, gera­de auch weil sie oft in die Hei­mat ihrer Eltern fah­ren. Aber manch­mal wird das Hin und Her zwi­schen meh­re­ren Spra­chen auch zum Spa­gat: Wenn Nico die fran­zö­si­sche Spra­che, die er in sei­ner Kind­heit in Nord­afri­ka gespro­chen hat, nun gar nicht mehr rich­tig kann, ist das ein wich­ti­ger Hin­weis dar­auf, dass man för­der­po­li­tisch an den vor­han­de­nen Kom­pe­ten­zen anset­zen muss.

Zwischen den Kulturen?

Die Fami­lie ist ein Ort der Zuge­hö­rig­keit und des Mit­ein­an­ders. Ver­wand­te haben einen hohen Stel­len­wert im Leben der Jugend­li­chen. Jeder ist Vor­bild – in der Erzie­hung, in der Schu­le, im Sport, im Beruf, im Umgang mit ande­ren, in der Fra­ge, was sich gehört und was nicht, in der Reli­gi­on und bei der Zukunfts­pla­nung. Die Jugend­li­chen füh­len sich damit wohl und gut auf­ge­ho­ben. Schwie­rig wird es aller­dings bei den Rol­len­bil­dern von Frau und Mann. Von den Jungs mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund wird früh erwar­tet, dass sie Geld ver­die­nen, auf den Umgang ihrer Schwes­tern mit ande­ren ach­ten, wich­ti­ge Fami­li­en­ent­schei­dun­gen mit­tra­gen. Die Mäd­chen wer­den stark in den Haus­halt ein­ge­bun­den, beruf­li­che Qua­li­fi­ka­tio­nen wer­den von ihnen weni­ger erwar­tet. Für die Jugend­li­chen selbst ist das schwie­rig: Die Mäd­chen stren­gen sich in der Schu­le an, um gute Berufs- und Aus­bil­dungs­chan­cen zu haben. Die Jungs spü­ren den Gegen­wind in ihrem Freun­des­kreis, wenn sie an den alten Rol­len­bil­dern fest­hal­ten wollen.

Stimmen der Jugendlichen zu „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“

Stimmen der Jugendlichen zu „Jugendliche zeigen uns ihr Leben“

Offenheit …

Wenn man in einem Laden was kau­fen will oder jeman­dem begeg­net, dann braucht man, ich weiß nicht, viel­leicht Inter­es­se. Der gegen­über kommt dann auch offen rüber. Das ist ein­fach bes­ser so. Weil wenn ich was will und da so schüch­tern da steh’ – das macht kei­nen Sinn.“

Tagaus, tagein …

Wenn ich nach Hau­se komm’, hab’ ich schon meist Zeit­druck. Ich bin dann auch so hung­rig, ess’ noch was, dann geh’ ich mei­ne Haus­auf­ga­ben machen, schau’ auf die Uhr, weil ich nach­her ins Trai­ning muss. Und da ist es genau­so wich­tig, dass man nicht zu spät kommt, genau wie in der Schu­le. Dann komm’ ich so um zehn wie­der nach Hau­se, kom­plett kaputt, und dann merkst du, du hast dei­ne Haus­auf­ga­ben nicht alle gemacht, und dann hängt es schon an der Zeit, dass es end­lich gemacht wird und dass man dann auto­ma­tisch müde ist. Und das ist eigent­lich schon fast All­tag – also bei mir ist es so: Ich geh’ in die Schu­le, nach Hau­se, ins Trai­ning, ver­such’, mei­ne Haus­auf­ga­ben zu machen, biss­chen zu lernen.“

Unter der Woche geh’ ich in die Schu­le. Wir haben auch nach­mit­tags Unter­richt bis halb fünf. Und dann Sams­tag hab’ ich Arbeit. Also, ich mach’ so Aus­hil­fe. Und da hab’ ich den gan­zen Sams­tag bis um acht, bis um zwan­zig Uhr – dann hab’ ich auch kei­ne Zeit, halt so raus zu gehen. Und dann Sonn­tag ist eher so der Ruhe­tag zum Ausruhen.“

Soziale Networker …

Am Wochen­en­de, da tref­fen wir uns erst mal an einem Fuß­ball­platz, wo wir eigent­lich immer so sind … … Und dann sind wir halt dort, und da kom­men jetzt Leu­te, die du kennst, und Leu­te, die du nicht kennst. Dann machst du die Teams und spielst mit einem, den du nicht kennst, der kommt immer wie­der und wie­der. Und mor­gen hast du ihn schon auf Face­book, und dann siehst du die Leu­te wie­der, und dann kennst du die ein­fach. Es zieht immer wei­te­re Krei­se. Und durch Fuß­ball kenn’ ich eigent­lich schon fast jeden.“

Vorbilder …

Also ich fin­de ja, jede Fami­lie ist eine Vor­bild­funk­ti­on für jeman­den. Wenn man die Mut­ter sieht, dass sie alles hin­be­kom­men hat, wie sie dich sozu­sa­gen erzo­gen hat, dann denkt man sich doch auch, so will ich mein Kind auch erziehen.“

Verantwortung …

Wenn ich nach Hau­se kom­me und nie­mand zu Hau­se ist, was meis­ten so ist, kauf’ ich alles ein und koche. So wur­de ich halt erzo­gen von mei­nen Eltern. Und, ja, wenn du nach Hau­se kommst und jemand ist schon zu Hau­se, dann ist auch alles schon vorbereitet.“

Grenzen testen …

Also, es liegt ein­fach von Anfang an auch am Freun­des­kreis, also wenn’s um Alko­hol oder Rau­chen geht. Wenn kei­ner von dei­nen Freun­den raucht – es kommt halt drauf an, mit wem du jeden Tag drau­ßen bist -, dann kommst du gar nicht dazu. Weil bei mir ist es halt so, dass fast alle mei­ne Freun­de Fuß­ball spie­len. Das ist auch ein Grund, war­um die so was weglassen.“

Das Geld ist gezählt …

Es ist ein gewis­ser Stolz, wenn man sich das sel­ber finan­zie­ren kann. Und wenn man für die Schul­land­heim­rei­se sel­ber zahlt, dann denkt man sich, ich hab’ was geleis­tet. Das hast du sel­ber finan­ziert, und das ist dann auch gut.“

Vielsprachigkeit …

Also ich sprech’ Deutsch und Afgha­nisch, also mit Pasch­tu und Dari. Natür­lich Eng­lisch. Und, ja, wenn man mit Fuß­ball in Togo ist, dann lernt man ein biss­chen Fran­zö­sisch, wenn man in Polen ist, Pol­nisch, in Kroa­ti­en ein biss­chen Kroatisch.“

Das Come-Together in der TIM-Stiftung …

Mir ist klar gewor­den, dass ich nicht die Ein­zi­ge bin. Jetzt denk’ ich mir, bei denen ist es auch so. Bei mir ist gar nichts schief.“

Ich will nur kurz zu dem Punkt was sagen: Mich wundert’s so, wie­so – ich sag’ jetzt mal in Anfüh­rungs­zei­chen „Erwach­se­ne“ –, also wie­so erwar­ten die Erwach­se­nen von uns so wenig? Nur weil wir etwas jün­ger sind. Die Erwar­tun­gen sind zu nied­rig, find’ ich.“

Mit Antonio unterwegs – eine Begleitung

Mit Antonio unterwegs – eine Begleitung

Margit Weihrich

Anto­nio ist 16. Er ist in Bra­si­li­en auf­ge­wach­sen und lebt seit eini­gen Jah­ren in Deutsch­land. Wir haben uns auf dem Sport­platz ver­ab­re­det und machen uns von dort auf den Weg durch das Vier­tel, in dem er wohnt. Anto­nio erzählt ein biss­chen über Bra­si­li­en, wo sei­ne Groß­mutter lebt, nach der er sich sehnt. „Der Opa von der Oma ist gestor­ben, jetzt ist sie ganz allei­ne“. Por­tu­gie­sisch kön­ne er schon nicht mehr rich­tig, und umge­kehrt sei sein Deutsch noch nicht per­fekt. Aber er sei ein guter Fuß­bal­ler. „Die sagen hier, Du bist gut!“. Aber sie wür­den auch sagen, er träu­me zu viel und müs­se mehr trainieren.
Auf dem Weg erzählt Anto­nio, wie ein nor­ma­ler Tag bei ihm aus­sieht. Er steht um 6 Uhr auf und geht unter die Dusche. Früh­stü­cken sei nichts für ihn. „Ich kann erst in der Pau­se was essen, in der Früh habe ich kei­nen Appe­tit“. Wir ste­hen jetzt an einer Kreu­zung, und Anto­nio deu­tet auf den Dis­coun­ter an der Ecke. „Da ist Aldi, da kau­fe ich Was­ser.“ Wie er das trans­por­tie­re? „Mit dem Rad, das ist schwer“. Ande­re Geträn­ke kau­fe er bei Lidl, und Brot dort beim Bäcker. Er zeigt auf den Laden.
Sei­ne Mut­ter ist krank, erzählt er, und er mache jetzt alles, was zuhau­se so anfällt: ein­kau­fen, waschen, kochen. Was kochst Du, fra­ge ich. „Spa­ghet­ti, Reis, alles. Mei­ne Mut­ter isst aber nicht alles, was ich koche, vor allem, wenn ich was Kreo­li­sches mache. Da ist sie ja der Pro­fi.“ Ich lobe ihn und sage, das sei ja toll, dass er so viel im Haus­halt mache. So toll sei das nun auch wie­der nicht, sagt er. „Manch­mal bin ich auch frech“.
Kochen macht Spaß, sagt er, „und das kann ich auch gut“. Er kön­ne sich vor­stel­len, mal Koch zu wer­den, aber da müs­se man so früh auf­ste­hen. Außen­ver­tei­di­ger zu wer­den wäre aber noch bes­ser. Wir kom­men an einem Stadt­teil­platz vor­bei, eini­ge Jugend­li­che kicken dort. „Die bei­den hier kenn ich“, sagt er. „Hier spie­len wir oft Fuß­ball, mit allen mög­li­chen Leuten“.
Er deu­tet in Rich­tung Innen­stadt, dort­hin fah­re er manch­mal, zu Scheck und Schus­ter wegen Sport­sa­chen. Und zum Okto­ber­fest, sagt er und lacht. „Ich woh­ne da hin­ten“, sagt er. Als wir in sei­ne Stra­ße abbie­gen, kommt uns auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te ein älte­rer Jun­ge ent­ge­gen, man ruft sich hal­lo zu, ich sage, ah, Du kennst ja jede Men­ge Leu­te. „Der ist aber nicht immer nett zu mir“, sagt er. Ich fra­ge, was der denn mit ihm mache. „Er sagt, Du Opfer und so was“. War­um denn, fra­ge ich. „Wegen der Far­be“, sagt Anto­nio und deu­tet auf sei­ne Haut. Was er dann mache in so einer Situa­ti­on? „Ich belei­di­ge zurück“, sagt er.
Wir sind jetzt in der Nähe sei­ner Woh­nung, und Anto­nio zeigt mir die Läden rund­um. In einem klei­nen Obst­la­den kau­fe er Fri­sches ein. „Schle­cker hat jetzt zuge­macht“, sage ich, als wir an einem lee­ren Laden­lo­kal vor­bei­kom­men. „Ja, das ist schlecht“, sagt Anto­nio. „Jetzt muss ich in die Stadt fah­ren, wenn wir Dro­ge­rie-Sachen brau­chen“. „Da woh­ne ich“, sagt er und deu­tet in eine Stra­ße. Ein eige­nes Zim­mer habe er nicht. Wenn er Zeit habe, mache er Com­pu­ter­spie­le. Manch­mal sei ihm auch lang­wei­lig, zum Bei­spiel am Wochenende.
Wir keh­ren um und machen uns auf den Weg zurück zum Sport­platz. An der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le blei­ben wir wie­der ste­hen, und Anto­nio erzählt über sei­nen Schul­weg. Hier­für gibt es ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten. Er fährt meis­tens mit der U‑Bahn, auch wenn das län­ger dau­ert – aber da kriegt er in der Regel beim Umstei­gen den Anschluss, mit der Stra­ßen­bahn sei das schwie­ri­ger. „Jetzt gibt’s ja bald Zeug­nis­se“, sage ich. In Kochen habe er immer gute Noten, sagt Anto­nio. Neu­lich habe er in der Schu­le das kreo­li­sche Reis­ge­richt gekocht, von dem sei­ne Mut­ter sagt, sie kön­ne das bes­ser. Ich fra­ge ihn, ob die ande­ren Jungs auch so viel für den Haus­halt machen. Das wis­se er nicht, sagt er. „Wis­sen die ande­ren, was Du da alles machst?“ „Nein, da reden wir nicht drüber“.
Was er jetzt noch vor­ha­be? Er müs­se um vier zu Hau­se sein, sagt Anto­nio, sei­ne Mut­ter war­te sicher schon auf ihn, „wegen dem Essen“. Am Ende fra­ge ich ihn noch, ob wir ein The­ma ver­ges­sen haben, das er wich­tig fin­de. „Über die Lie­be haben wir nicht gere­det“, sagt er, lacht und schaut ein biss­chen ver­le­gen zur Seite.

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