Stärken sichtbar machen!
Jugendliche leben heute in einer Gesellschaft, die an sie komplexe Aufgaben stellt: sei es bei der Bewältigung von alltäglichen Situationen in der Familie, in der Freizeit, in der Schule oder bei der Planung einer beruflichen Perspektive. Sie müssen einen eigenen Lebensentwurf entwickeln und in der Lage sein, diesen immer wieder zu hinterfragen und angesichts sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen gegebenenfalls zu verändern.
Hierfür brauchen Jugendliche neben einer soliden Schul- und Berufsbildung Fähigkeiten, die sich weniger auf die Anwendung von Wissen als vielmehr auf einen selbstorganisierten Umgang mit Aufgaben und Problemen beziehen. Sie benötigen hierfür Gewissheit über die eigenen Stärken, Mut, die Dinge kritisch zu betrachten, Vertrauen in die eigene Kraft und die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Solche Schlüsselkompetenzen sind eine wichtige Startbedingung für die Entfaltung der Persönlichkeit, für die Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse und für einen beruflichen Erfolg. Sie werden nicht nur in der Schule oder in der Ausbildung erworben. Man entwickelt sie ebenfalls im Zusammenleben mit der Familie, in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen, in der Freizeit und so auch bei den Angeboten kultureller Bildungsarbeit.
„Das habe ich im Theater gelernt“
Die Förderung von Schlüsselkompetenzen ist ein wichtiges Anliegen kultureller Kinder- und Jugendbildung. Kreativität, soziales Interesse, Verantwortungsbereitschaft und Selbstbewusstsein werden im aktiven Umgang mit den Künsten oder den anderen Arbeitsformen der kulturellen Bildung gefördert. So unterstützen zum Beispiel Theater, Tanz, Rhythmik, Zirkus, Musik, Literatur, Medien und Bildende Kunst Kinder und Jugendliche, sich in der Welt selbstorganisiert zurecht zu finden. Diese Erfahrung machen die Fachkräfte kultureller Bildungsarbeit jeden Tag bei ihrer Arbeit und das erfahren die Jugendlichen auch immer wieder selbst. Beispielsweise ist eine 18-Jährige seit sieben Jahren Mitglied einer Theatergruppe in einem theaterpädagogischen Zentrum. Sie macht gerade eine Ausbildung zur Optikerin. Immer wieder stellt sie fest, dass ihr die bei der Theaterarbeit entwickelten Kompetenzen helfen. Als sie zum Beispiel für eine erkrankte Kollegin im Verkauf aushelfen soll, ist sie zuerst erschrocken: „Das habe ich doch noch nie gemacht!“. Doch nach dem ersten Tag muss sie selbst feststellen, dass sie sich ganz schnell in die Situation eingefunden hat. Sie erklärt ihren Erfolg: „Improvisieren – das habe ich im Theater gelernt.“
Ein 15-Jähriger berichtet, dass er vor einiger Zeit begann, immer wieder im Kinder- und Jugendzirkus aufzutauchen. Zunächst nur selten, dann aber mit großer Regelmäßigkeit, obwohl ihm das Durchhalten manchmal sehr schwer fiel. Er nahm regelmäßig am Training teil, weil er ansonsten keine Fortschritte wie die anderen hätte erzielen können: „Das hat mich angespornt. Ich wollte dabei sein!“. Mittlerweile beherrscht er nicht nur die Jonglage und das Einradfahren, sondern übernimmt auch gerne die Rolle des Zirkusdirektors bei Aufführungen. Er sagt: „Wenn man etwas kann, kann man auf sich selbst stolz sein“.
Der Kompetenznachweis Kultur – ein Bildungspass für Jugendliche
So wie die beiden verbringen viele Jugendliche ihre Freizeit in kulturpädagogischen Einrichtungen und Projekten wie Jugendkunst- und Musikschulen, Theater- und Tanzwerkstätten, Literaturbüros oder Medienzentren, im Kindermuseum, im Jugendzirkus. Dass junge Menschen in dieser Zeit viel lernen – auch jenseits der eigentlichen künstlerischen Fähigkeiten – steht für alle Beteiligten außer Frage. Kulturelle Bildungsarbeit fördert eine Vielzahl von Schlüsselkompetenzen: Kreativität, Teamgeist und Selbstbewusstsein, Durchhaltevermögen und Flexibilität, Organisationstalent und Improvisationsfähigkeit, um nur einige zu nennen.
Die Angebote der kulturellen Bildungsarbeit bieten für viele junge Menschen wichtige Lernchancen. Die hier gesammelten Erfahrungen prägen ihre Persönlichkeit, ihre Lebensentwürfe und ihre Sicht der Dinge. Vor allem treten hier ihre Stärken in den Vordergrund, von denen sie manchmal selbst gar nichts ahnen. Stärken, die es wert sind, anerkannt zu werden. Bislang gab es für diese Lernerfahrungen keinen sichtbaren Nachweis und damit wenig Anerkennung für die in der kulturellen Bildungsarbeit gezeigten Kompetenzen. Die Wirkungen kultureller Bildung sichtbar zu machen und Jugendliche durch eine deutliche Anerkennung ihrer individuellen Leistungen zu unterstützen, ist Ziel des Kompetenznachweises Kultur.
Der Kompetenznachweis Kultur ist ein individueller Bildungspass in Form eines Portfolios. Er dokumentiert schwarz auf weiß die in der kulturellen Bildungsarbeit gezeigten Stärken von Jugendlichen. Er wurde in enger Zusammenarbeit mit Praktikerinnen und Praktikern der kulturellen Jugendbildung, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Kompetenzforschung, sowie Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft entwickelt. Der Kompetenznachweis Kultur besteht aus einer prägnanten Beschreibung der künstlerischen Aktivitäten und der dabei deutlich gewordenen individuellen Stärken des Jugendlichen. In der dazugehörigen Mappe können Dokumente und Ergebnisse wie Fotos, CDs, DVDs oder anderes gesammelt werden. Zum Nachweis von Schlüsselkompetenzen wurde ein entsprechendes Verfahren entwickelt, das haupt‑, neben- und ehrenamtliche Fachkräfte der kulturellen Jugendbildung in Fortbildungen erlernen können.
Besondere Kennzeichen: freiwillig und individuell
Jeder Jugendliche entscheidet selbst, ob er für seine Aktivitäten in der kulturellen Bildungsarbeit einen Kompetenznachweis Kultur erhalten möchte. Darüber hinaus gehört es zum Konzept, dass Jugendliche aktiv an der Erstellung ihres Kompetenznachweises Kultur mitarbeiten. Auf diese Weise werden sie für ihre eigenen Stärken sensibilisiert. Der Kompetenznachweis Kultur gibt dem Jugendlichen eine deutliche Wertschätzung für das, was er außerhalb der Schule geleistet hat – der Jugendliche gibt sich durch seine Mitarbeit diese Wertschätzung aber auch selbst. Ein entscheidender Unterschied zum Zeugnis oder zur Teilnahmebescheinigung. Der gesamte Prozess bis zur Fertigstellung des Kompetenznachweis Kultur lebt von Partizipation und – durchaus auch kritischer – Reflexion. Die Teilnahme stellt somit für die Jugendlichen eine Anforderung dar, die selbst wiederum Kompetenzen fordert und fördert. In Bewerbungsgesprächen kann der Kompetenznachweis Kultur Impuls für ein Gespräch über die besonderen Fähigkeiten sein. Der Jugendliche spiegelt in diesem Gespräch das, was der Kompetenznachweis Kultur beschreibt, glaubhaft wider und kann über die kulturell-künstlerische Arbeit sowie über den Prozess zum Kompetenznachweis Kultur Auskunft geben, weil er selbst aktiv beteiligt war. Er ist somit der „lebendige Beweis“ für die Qualität dieses Bildungspasses.
Schlüsselkompetenzen erfassen und nachweisen
Um den Kompetenznachweis Kultur in der Praxis anwenden zu können, müssen Fachkräfte in einem gemeinsamen Prozess mit den Jugendlichen den Blick schärfen für das, was in einem Kurs oder Projekt gelernt werden kann und welche Wirkung die Teilnahme auf den Einzelnen hat. Um dies tun zu können, hat die BKJ vier Arbeitsschritte entwickelt, die an die tägliche Praxis von Fachkräften kultureller Jugendbildung anknüpfen:
1. Schritt: Erstellung einer „Praxisanalyse″ Systematisch arbeitet die Fachkraft im Vorfeld heraus, welche Aufgaben die Jugendliche in dem konkreten kulturell-künstlerischen Projekt bewältigen müssen und welche Schlüsselkompetenzen dort potenziell erworben werden können. Hierfür stehen Materialien zur Verfügung, die helfen, diese Systematik zu erarbeiten (Tableaus der Schlüsselkompetenzen).
2. Schritt: Beobachtung Mit Beginn des Projektes beobachten Fachkraft und Jugendlicher, wie diese Aufgaben umgesetzt werden und welche Schlüsselkompetenzen sich hierbei immer wieder zeigen. Der Jugendliche schult hierbei seine Selbstwahrnehmung, in dem er sich und sein Tun in den Blick nimmt.
3. Schritt: Dialog In Gesprächen tauschen sich Fachkraft und Jugendlicher über ihre Beobachtungen aus. Es geht darum herauszufinden, welche Stärken der Jugendliche bei sich entdeckt. Dieser Dialog kann einzeln, in der Gruppe oder auf eine spielerische Weise stattfinden. Wichtig ist, dass Fachkraft und Jugendlicher auf Augenhöhe miteinander reden, um Selbstreflexionsprozesse zu ermöglichen.
4. Schritt: Beschreibung Fachkraft und Jugendlicher stimmen sich darüber ab, welche Kompetenzen in den Bildungspass aufgenommen werden sollen. Im Mittelpunkt stehen die individuellen Stärken und Fähigkeiten des Jugendlichen, die bei dem konkreten Projekt gezeigt wurden. Abschließend verfassen beide gemeinsam einen kurzen Text, der dieses Profil auch für Dritte nachvollziehbar macht. Der Kompetenznachweis Kultur wird ausgefüllt und an den Jugendlichen übergeben.
Quelle: www.kompetenznachweiskultur.de